Aquatische Risikobewertung

Risikoanalyse - Exposition und Wirkung

Gibt es Erkenntnisse, dass ein chemischer Stoff ein Ökosystem mit seinen Organismen schädigen könnte, muss das konkrete Risiko bewertet werden. Eine solche Risikoanalyse beruht im Regelfall auf einer einfachen Verknüpfung einer Expositions- mit einer Wirkungsanalyse. Dabei versteht man unter Exposition das "Ausgesetztsein" eines Organismus gegenüber der Art, Dauer und Dosis bzw. Konzentration eines chemischen Umwelteinflusses. Wirkung wiederum ist jede aus einer Exposition resultierende und messbare nachteilige Änderung eines biologischen Parameters bei einem Zielorganismus.

Speziell für die Lebensgemeinschaft aquatischer Organismen in einem Oberflächengewässer, wie zum Beispiel einem Fluss, lässt sich folgendes Szenario beschreiben. Die Emission einer Chemikalie, zum Beispiel durch die Ableitung eines Industrieabwassers, führt zu einer Immission im Gewässer, deren Konzentration im Vorfluter durch Messung bestimmt (MEC = Measured environmental concentration) oder im Regelfall unter Berücksichtigung der Verdünnungsverhältnisse bei der Ableitung in den Vorfluter kalkuliert werden kann (PEC = Predicted environmental concentration).

Parallel dazu ermittelt der Ökotoxikologe die Dosis-Wirkungs-Daten für die Organismen der Flusslebensgemeinschaft und leitet daraus unter Berücksichtigung eines ausreichenden Sicherheitsfaktors die sog. PNEC (Predicted no effect concentration) ab. Wird diese PNEC im Gewässer durch die MEC bzw. PEC nicht überschritten, kann selbst bei langfristiger Exposition davon ausgegangen werden, dass das Leben im Gewässer umfassend geschützt ist.

Die aquatische Lebensgemeinschaft

Die aquatische Lebensgemeinschaft ist als Ganzes zu schützen. Deshalb wird die Wirkung eines Schadstoffes auf die Vertreter der Nahrungskette in einem Gewässer, die sog. Trophiestufen, untersucht - von den Algen als Produzenten über Wirbellose, zum Beispiel Kleinkrebse und wasserlebende Insekten bzw. Insektenstadien, als Primärkonsumenten bis zu den Fischen, den Sekundärkonsumenten.

Während bei den Fischen in der Praxis eine ganze Reihe von Arten wie zum Beispiel Goldorfe oder Zebrabärbling als Testorganismen eingesetzt werden, werden für die Primärkonsumenten standardmäßig häufig Daphnien (Wasserflöhe) sowie für die Produzenten Grünalgen wie zum Beispiel Scenedesmus-Arten getestet.

Akute und chronische aquatische Toxizität

Da schädigende Effekte nicht selten erst nach längerer Schadstoffexposition auftreten, stützt sich die Bewertung vorzugsweise auf längerfristige Toxizitätstests, die gemessen am Lebenszyklus des Testorganismus eine chronische Einwirkung bis zu mehreren Wochen bzw. einigen Monaten simulieren. Ziel solcher aufwendigeren Tests ist es in der Regel, die sog. NOEC (No observed effect concentration) zu ermitteln.

Aus akuten Toxizitätstests mit deutlich kürzerer Versuchsdauer von meist 48 bis 96 Stunden gewinnt man demgegenüber Parameter wie die LC50 bzw. EC50, die Aussagekraft für akute, also kurzfristig auftretende schädigende Wirkungen besitzen.

Geeignete und häufig angewendete Testverfahren auf akute bzw. chronische aquatische Toxizität nach den
"OECD Guidelines for the Testing of Chemicals" (Übersicht)
Organismen Akuter Test ("short term") Chronischer Test ("long term")
Algen Wachstumshemmung
(nach OECD Guideline No. 201)
Wachstumshemmung
(nach OECD Guideline No. 201)
Daphnien Immobilisierung bzw. Bewegungsunfähigkeit
(nach OECD Guideline No. 202)
Reproduktion
(nach OECD Guideline No. 211)
Fische Mortalität
(nach OECD Guideline No. 203)
"Early-Life Stage Toxicity Test"
(nach OECD Guideline No. 210)

Ableitung der PNEC (Predicted No Effect Concentration)

Für die Risikobewertung von Stoffen in der EU ist das Guidance Document No. 27 “Technical Guidance For Deriving Environmental Quality Standards im Vollzug der Richtlinie 2000/60/EC (Wasserrahmenrichtlinie) zu beachten. Die PNEC-Ableitung für die aquatische Lebensgemeinschaft wird im Abschnitt 3.3 „Deriving a QSfw, eco (ersetze „QS“ durch „PNEC“ fw = fresh water) geregelt. Sie erfolgt im Regelfall mit der sog. Sicherheitsfaktormethode ("assessment factor method"). Prinzipiell ist immer vom niedrigsten Testergebnis über alle drei Trophiestufen auszugehen. Dieser Wert wird dann durch Division mit einem vorgesehenen Sicherheitsfaktor zur PNEC transformiert. Je mehr NOEC-Werte aus chronischen Wirkungstests zur Verfügung stehen, desto geringer fällt der Sicherheitsfaktor aus. Liegen nur akute Testergebnisse vor, ist der höchste mögliche Sicherheitsfaktor 1.000 anzuwenden.

Anzuwendende Sicherheitsfaktoren bei der Ableitung einer aquatischen PNEC
Verfügbare Testergebnisse Sicherheitsfaktor
Mindestens ein akuter Test L(E)C50 für jede der drei Trophiestufen Alge, Daphnie und Fisch 1000
Eine NOEC aus einem chronischen Test (Fisch oder Daphnie, nicht Alge) 100
Zwei NOECs für Arten aus zwei verschiedenen Trophiestufen 50
NOECs für mindestens drei Arten aus allen drei Trophiestufen 10

Fallbeispiel: Isoproturon

Das mittlerweile seit Oktober 2016 nicht mehr zugelassene Harnstoff-Derivat Isoproturon war das in Deutschland mit einem jährlichen Verbrauch von über 1.000 Tonnen am häufigsten eingesetzte Herbizid im Ackerbau. Wegen seiner gesundheitsschädlichen und ökotoxischen Eigenschaften war es bereits während seiner Zulassung als prioritärer Stoff nach der Wasserrahmenrichtlinie eingestuft. Ein Eintrag in Gewässer erfolgte hauptsächlich über die landwirtschaftlichen Flächen sowie über Hofabläufe, zum Beispiel durch unsachgemäßes Spülen von Spritzbehältern.

Nach den für Isoproturon vorliegenden Datenblättern zur aquatischen Risikobewertung konnten für die Standardtrophiestufen der aquatischen Nahrungskette die folgenden chronischen Toxizitätswerte ermittelt werden:

  • Sekundärkonsumenten: NOEC (Fisch: Regenbogenforelle) = 1 mg/l
  • Primärkonsumenten: NOEC (Flohkrebs: Daphnia magna) = 0,12 mg/l
  • Produzenten: NOEC (Grünalge: Scenedesmus) = 0,0032 mg/l

Erwartungsgemäß erweisen sich Grünalgen am empfindlichsten gegenüber dem Photosynthesehemmer Isoproturon. Da chronische NOEC-Werte für alle drei Trophiestufen zur Verfügung stehen, ist nach dem TGD ein Sicherheitsfaktor von 10 ausreichend, der auf den niedrigsten Wert bei den Grünalgen anzuwenden ist. Damit kann man für Isoproturon eine aquatische PNEC von 0,32 µg/l auf der zur Verfügung stehenden Datenbasis ermitteln.

Bedeutung der PNEC

Qualitätsnormen für Oberflächengewässer

Da die PNEC die aquatische Lebensgemeinschaft umfassend schützen soll, bildet sie quasi eine fachliche Qualitätsanforderung für Oberflächengewässer. Entsprechende Qualitätskriterien als Ziel- bzw. Normwerte sind ein wesentliches Element der „Verordnung zum Schutz der Oberflächengewässer (Oberflächengewässerverordnung – OGewV)“ zur Umsetzung der Richtlinie 2008/105/EG (Umweltqualitätsnormen im Bereich der Wasserpolitik) in Verbindung mit der Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG zur Überwachung und Sicherstellung der Gewässerqualität in den Mitgliedsstaaten. So gilt in der OGewV für das oben angeführte Beispiel Isoproturon aufgrund der PNEC von 0,32 µg/l eine Umweltqualitätsnorm (UQN) in oberirdischen Binnengewässern von (abgerundet) 0,3 µg/l.

Geringfügigkeitsschwellenwerte der LAWA für das Grundwasser

Für die Beurteilung von Grundwasserverunreinigungen, zum Beispiel als Folge von Altlasten oder Schadensfällen, hat die Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) den Begriff des Geringfügigkeitsschwellenwertes (GFS) eingeführt und entsprechende Werte für eine Reihe von Schadstoffen abgeleitet.

Die GFS soll die Grenze zwischen einer geringfügigen Veränderung der chemischen Beschaffenheit des Grundwassers und einer nachteiligen und ggf. sogar schädlichen Verunreinigung bilden. Sie wird in diesem Sinne definiert als Konzentration, bei der trotz einer Erhöhung der Stoffgehalte gegenüber regionalen Hintergrundwerten

  • die Anforderungen der Trinkwasserverordnung oder entsprechend abgeleiteter Werte eingehalten werden und
  • keine relevanten ökotoxikologischen Wirkungen auftreten können,

wobei das jeweils empfindlichere dieser beiden Schutzgüter für die Festlegung der GFS maßgeblich ist.

Bei den ökotoxikologischen Wirkungen auf Grundwasserorganismen stützt man sich mangels normierter Testverfahren für solche Organismen auf Testergebnisse sowie PNEC-Daten für Oberflächenwasserorganismen unter der Annahme, dass deren Empfindlichkeitsspektrum auch die Lebensgemeinschaft des Grundwassers ausreichend repräsentiert. Darüberhinaus sind die Oberflächengewässerorganismen aber auch unmittelbar von stofflichen Einwirkungen durch Grundwasser betroffen, da Grundwasser den Basisabfluss für die Oberflächengewässer bildet.

Weiterführende Informationen

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